Fangen wir an mit einem zentralen
Spruch aus der hebräischen Bibel:
„Und Moses sagte: Sehet ich gebe euch
heute das Gute und das Böse, das Leben und den Tod, auf dass
ihr das Leben wählet.“
Die Betonung des Judentums liegt auf
Leben. Natürlich weiß auch das Judentum, dass der Tod immer
auf uns lauert. Es weiß auch, dass uns jede Sekunde nur
geliehen wurde, dass jedes Geschlecht dem nächsten Platz
machen muss, unerbittlich. Sagt doch der Prediger: „Ein
Geschlecht vergeht, das andere kommt.“ Aber andererseits hat
niemand ein Anrecht auf das Leben. Es ist ein Geschenk. Aber
zugleich ist es auch eine Pflicht, eine Aufgabe, eine
Berufung.
Ein Zitat aus den Worten der Väter: „Denn
es steht geschrieben: „Wider deinen Willen wirst du erzeugt,
wider deinen Willen wirst du geboren, wider deinen Willen
lebst du, wider deinen Willen stirbst du und wider deinen
Willen wirst du dereinst Rechenschaft ablegen vor dem König
der Könige, dem Heiligen, gelobt sei Er.“
Im Unterschied zum Christentum wird der
menschliche Körper nicht als das „sündige Fleisch“, fast wie
ein Feind, angesehen, sondern als die Verkörperung Gottes
auf Erden. Nicht umsonst benutzt die Bibel bei der
Erschaffung des Menschen zwei unterschiedliche Begriffe: „zelem“
und „dmut“ - das äußere und das innere Abbild Gottes. Es
gibt auch eine halb mystische Überlieferung, dass Engel,
wenn sie herunterkommen, um eine Aufgabe zu übernehmen,
menschliche Gestalt annehmen. Dieses war bei der Geschichte
Abrahams der Fall. Mit anderen Worten: Der menschliche
Körper ist heilig. Der Mensch ist eine einmalige Verbindung
von Geist und Materie.
Deswegen muss auch der Leichnam, mit
anderen Worten: die Hülle, die übriggeblieben ist, nachdem
der Todesengel das Leben mitgenommen hat, mit Respekt und
Liebe behandelt werden. Er darf nicht „entsorgt“ werden.
Genau aus diesem Grunde ist im Judentum das Einäschern
verboten. Das trifft natürlich nicht auf Deutschland zu,
aber in Israel gibt es keine Krematorien. Diese Art der
Bestattung ist dort natürlich besonders negativ angesehen,
weil sie zu sehr an den Holocaust erinnert. Ich persönlich
erinnere mich sehr gut an das ungute Gefühl, das ich hatte,
als ich 1989 zum ersten Mal nach Berlin kam und an einem
Krematorium vorbeifuhr. Mir lief regelrecht ein Schauer über
den Rücken.
Andererseits wird aber im Judentum der
Leichnam als unrein angesehen. Nur muss man bedenken, dass
das jüdische Wort für unrein nichts mit „Reinheit bzw.
Sauberkeit“ zu tun hat, sondern ein Ding an sich ist, „tum'ah“
genannt. Einem Priester war es deshalb nicht erlaubt, mit
einem Leichnam in Verbindung zu kommen. Wenn das trotzdem
passierte, musste er ein rituelles Bad nehmen, bevor er
wieder im Tempel dienen durfte. Denn der jüdische Gott ist
ein lebendiger Gott. Obwohl der Tempel heute nicht mehr
besteht, gibt es auch heute in israelischen Krankenhäusern
eine Doppeltür zwischen der Leichenhalle und dem übrigen
Krankenhaus.
Für das Judentum wäre es deshalb auch
undenkbar, Tote unter dem Boden oder in der Wand eines
Gotteshauses zu bestatten; ebenso ist es für das Judentum
undenkbar, ein Gotteshaus in einen Friedhof zu bauen oder
eine Grabstätte in der Mitte einer Stadt. In Alt-Israel
wurden die Toten in Nischen innerhalb von Höhlen
untergebracht, mit anderen Worten: in unfruchtbaren
Gegenden. Die Höhlen gehörten gewöhnlich Familien und wenn
ein weiteres Mitglied der Familie beerdigt werden musste,
nahm man die Knochen und tat sie in ein Ossuarium, ein
tönernes Gefäß, auf das der Name des Toten geschrieben
wurde. Das erklärt auch, warum Jesus nach seiner Kreuzigung
in eine neue Grabhöhle gelegt wurde. Er sollte nicht mit dem
Tod in Verbindung gebracht werden. In Israel nennt man den
Friedhof „Haus der Gräber“oder auch „Haus der Ewigkeit“.
Diese Orte liegen außerhalb der Wohngebiete. Bis heute
werden in Israel die Toten auch nicht in Särgen begraben,
sondern in ein Tuch gehüllt und so ins Grab gelegt.
In Deutschland ist das verboten, und so
werden hier die Toten in Särgen begraben.
Wer mehr über die Behandlung des Leichnams
wissen will, braucht eigentlich nur das Neue Testament zu
lesen.
Zurück zum Sterben.
In einigen Gemeinden ist es üblich, dass
der Mensch, der im Sterben liegt, ein kurzes
Sündenbekenntnis spricht, z.B. „Mein Tod sei die Sühne für
alle meine Sünden,“ und dann fügt er das Glaubensbekenntnis
hinzu, das berühmte „Schmah“, „Höre Israel, der Ewige ist
unser Gott, der Ewige ist einzig.“. (5. Buch Moses 6,4).
Dieses ist auch der Satz, mit dem die Juden im Mittelalter
auf den Scheiterhaufen gestiegen sind.
Vor dem Tod öffnet man oft ein Fenster,
damit die Seele sich hinausbegeben kann. Ein weiterer Brauch
ist es, die Spiegel zu verhängen. Dafür gibt es mehrere
Deutungen: Entweder soll verhindert werden, dass sich die
Seele in einem Spiegel verfängt, "in eine Falle gelockt
wird", oder dass sich der Leichnam darin spiegelt und bald
ein zweiter Tod im Haus verkündet wird.
.
Mit dem Eintritt des Todes beginnt für die
nahen Angehörigen eine Trauerzeit (hebräisch: Aniut), die
die Periode bis zur Bestattung umfasst. Dieser Personenkreis
ist von jeder religiösen Pflicht befreit, braucht nicht zu
beten und kann sich ganz seiner Trauer hingeben.
Im Gegensatz zum Christentum gibt es im
Judentum keine Bestattungsfirmen. Die Bestattung und die
Vorbereitung darauf werden durch eine Institution
übernommen, die so genannte Chewra Kadischa (Heiliger
Verein). Auch im Judentum ist das mittlerweile
kostenpflichtig, allerdings nicht so übertrieben wie bei
einem Bestattungsinstitut.
Diese Vereinigung bereitet den Toten für
die Bestattung vor. Dazu gehört eine gründliche Waschung des
Toten, auch Tohorah – rituelle Reinigung – genannt. In
vielen Gemeinden wird für das Wasser, mit dem die Tohorah
durchgeführt wird, ein irdener Topf benutzt; anschließend
wird er zerschlagen und die Scherben in den Sarg gelegt.
Kleine Scherben werden auf die Augen gelegt, damit diese
geschlossen bleiben. Dem Leichnam wird die Totenkleidung
angezogen: ein langes weißes Gewand, auch Tachrichim
genannt, und eine weiße Kopfbedeckung. Der Mann bekommt
seinen Tallit, den Gebetsmantel, mit ins Grab, wobei an
einer Ecke die Schaufäden entfernt werden, weil sie ja den
Menschen an die Ausübung religiöser Pflichten erinnern
sollen, die der Tote ohnehin nicht mehr erfüllen kann. Für
die Verrichtungen, die die Mitglieder der Chewra Kadischa an
dem Toten meist in einem Raum auf dem Friedhofsgelände
vornehmen, gibt es ganz genaue Richtlinien, die peinlich
befolgt werden müssen. Wesentlich ist, dass die gesamte
Zeremonie für alle gleich ist. Jeder und jede bekommt das
gleiche Gewand, jeder bekommt den gleichen ganz einfachen
Sarg, der von der Gemeinde geliefert wird und keine Nägel
enthält. Jeglicher Pomp bei der Bestattung und bei allem,
was mit ihr zusammenhängt, ist untersagt. Schon im Talmud
steht geschrieben, dass der Tote nichts Materielles
mitnehmen kann, weder Gold noch Silber noch Juwelen. Das
Einzige, was man mitnehmen kann, sind die guten Taten, die
man im Leben angesammelt hat.
Unter den Kopf des Toten legt man ein
Säckchen mit Erde aus Israel. Damit ist der Tote mit seiner
ewigen Heimat, dem Lande Israel verbunden.
Wenn irgend möglich, wird der Tote noch am
selben Tag vor Sonnenuntergang begraben. Wenn das nicht
geht, dann so bald wie möglich.
Hier möchte ich eine geschichtliche
Episode einflechten. Jeder von Ihnen hat bestimmt von der
großen Pestepidemie gehört, die im 15. Jahrhundert in
Deutschland wütete. Es gab damals sehr viele Tote, aber nur
bei den Christen. Bei den Juden war die Krankheit relativ
selten, woraufhin man sie beschuldigte, sie hätten die
Brunnen vergiftet. In den letzten Jahren ist ein
amerikanischer Epidemiologe dieser Geschichte nachgegangen
und hat folgendes herausgefunden. Wie wir heute wissen, wird
die Pest durch Flöhe übertragen. Diese verlassen den Körper
aber nur, wenn er kalt wird. Dann springen sie auf einen
anderen Menschen über und infizieren ihn. Da die Juden ihre
Toten kurz nach dem Tod waschen, ihnen frische Kleidung
anziehen und sie dann sofort begraben, töten sie damit
zugleich die Flöhe. Auch die Kleider werden sofort
gewaschen.
Die Bestattungszeremonie selbst beginnt
mit einer Trauerfeier auf dem Friedhof in einem dafür
vorgesehenen Raum. Es wird – meist nach einem einleitenden
Gesang des Kantors – eine Trauerrede von einem Rabbiner
gehalten; oft sprechen außerdem noch andere Personen. Es
gilt als unstatthaft, einem Verstorbenen das ihm gebührende
Lob zu verweigern. Allerdings kann sich der Verstorbene noch
zu Lebzeiten Reden verbeten haben. Insofern also ist eine
Rede nicht obligatorisch. Darüber gibt es folgenden Witz:
Was ist der Unterschied zwischen einer
Laudatio und einer Grabrede? Bei einer Laudatio gibt es
wenigstens einen, der daran glaubt.
Dann folgt ein Gebet, das als Zidduk
ha-din (Anerkennung der göttlichen Gerechtigkeit) bezeichnet
wird. Sein Kerngedanke besteht darin, dass Leben und Tod in
der Hand Gottes liegen, dessen Entscheidung immer richtig
ist: „Gott hat gegeben und Gott hat genommen; der Name
Gottes sei gelobt.“ (Hiob, 1,21)
Zu manchen Zeiten des Jahres wird dieses
Gebet durch Psalm 16 ersetzt, der ähnliche Gedanken enthält
und mit den folgenden Worten beginnt:
„Wache, Gott, über mich, weil ich mich auf
Dich verlassen habe.“ Daran schließt sich dann ein Gebet für
das Seelenheil des Toten an; seine Seele möge Ruhe und
Frieden finden. Dann wird von den Trauernden, den nahen
Verwandten des Verstorbenen, die so genannte Kria
vorgenommen, sofern sie nicht gleich nach dem Tode
ausgeführt wird. Die Kria ist ein Riss: Zum Zeichen der
Trauer zerreißt man seine Kleider. Dafür gibt es feste
Regeln, indem für die Eltern auf der linken Seite, für
andere nahe Angehörige auf der rechten Seite vom Halse an
ein Stück senkrecht eingerissen wird und sieben Tage, bzw.
für die Eltern dreißig Tage, nicht vernäht werden darf. Auf
diese Weise soll der Schmerz nach außen sichtbar gemacht
werden; zum Zeichen für den Riss im Herzen wird ein Riss in
die Gewänder gemacht. Danach wird der Sarg zu dem bereits
vorher ausgehobenen Grabe gebracht. Der Gang von der
Trauerfeier zum Grabe wird mehrmals unterbrochen, um die
Mühsal dieses Weges anzuzeigen, wobei mehrmals das Gebet
rezitiert wird, das mit folgenden Worten anfängt
G'tt voller
Erbarmen, in den Himmelshöhen thronend,
gebe der Seele von... die verdiente
Ruhestätte
unter den Flügeln Deiner Gegenwart,
(in den Höhen der Gerechten und Heiligen,
strahlend wie der Glanz des Himmels,.
Sieh die gesamte Gemeinde betet für das
Aufsteigen seiner/ihrer Seele,
so berge sie doch Du, Herr des Erbarmens,
im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit
und schließe diese Seele mit ein in das
Band des ewigen Lebens.)
Gott sei ihr Erbbesitz,
und im Garten Eden ihre Ruhestätte,
und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte
in Frieden.
Und sie mögen wieder erstehen zu ihrer
Bestimmung
am Ende der Tage.
Und alle sagen wir Amen.“
Das ist das Gebet, das wir auch immer
wieder bei Gedenkfeiern für die Toten der
Konzentrationslager und für die gefallenen Soldaten in
Israel hören.
Wenn möglich, wird der Weg zum Friedhof zu
Fuß zurückgelegt. Sonst wird der Sarg in einem einfachen
Wagen zum Friedhof gefahren. Es gibt keinen Prunk. Den
letzten Teil des Weges trägt man den Sarg oder die Bahre auf
den Schultern. Bei den Sepharden in Jerusalem gibt es einen
ungewöhnlichen Brauch: Wenn ein Mann zu Grabe getragen wird,
dürfen seine Söhne oder Töchter nicht direkt hinter dem Sarg
oder der Bahre hergehen. Man weiß schließlich nie, ob der
Tote der wirkliche Vater ist. Nach dem Tod weiß es die Seele
aber und könnte sich an dem vermeintlichen Sohn oder der
Tochter rächen.
Nachdem man die Grabstelle erreicht hat,
wird der Sarg sehr behutsam und liebevoll hinabgelassen. Das
Grab wird erst an dem Tag ausgehoben, an dem die Beerdigung
stattfindet. Alle Anwesenden werfen drei Hände oder eine
Schaufel Erde auf den Sarg, wobei sie jedes Mal sagen: „Von
Staub bist du und zum Staub wirst du zurückkehren.“ (1. Buch
Moses 3, 19), was Gott seinerzeit zu Adam gesagt hatte, als
er ihn und seine Frau aus dem Paradies vertrieb. Wenn der
Sarg völlig von Erde bedeckt ist, spricht der älteste Sohn
das Kaddischgebet, das auch in Gottesdiensten ständig zum
Totengedenken gesagt wird, obwohl es inhaltlich mit dem Tode
nichts zu tun hat, sondern ausschließlich ein Lob Gottes
enthält. Es handelt sich nicht wie im Christentum um eine
Totenmesse Die Formel des Kaddisch ist auf Aramäisch und
fängt mit den Worten an: „Erhoben und geheiligt werde sein
großer Name in der Welt, (die Er nach seinem Willen
erschaffen hat und in der sein Reich entstehen wird in eurem
Leben und in Euren Tagen und dem Leben des ganzen Hauses
Israel, schnell und in naher Zeit. Und sprechet Amen.“ Die
ganze Trauergemeinde sagt: „Gelobt sei Sein großer Name für
alle Ewigkeit.“) Und das Gebet endet mit der Formel: „Der
Frieden schafft in seinen Himmelhöhen, wird Frieden schaffen
für uns und für ganz Israel. Und wir sagen Amen.“
Wie gesagt, ist das keine Totenmesse. Das
jüdische Volk ist eine Kette, ein Volk, das die Aufgabe
übernommen hat, die Einsheit Gottes zu bezeugen. Nach dem
Tod des Vaters übernimmt der Sohn, das nächste Glied in der
Kette, dessen Aufgabe.
Der jüdischen Auffassung zufolge ist die
Seele des Verstorbenen anwesend und versteht alles, was
gesagt wird. Sie kann nur nicht sprechen. Das erklärt auch,
dass die Totengräber, nachdem sie das Grab zugeschüttet
haben, sich bei dem Toten entschuldigen; und zwar sagen sie
folgendes: „Wenn du das Gefühl hast, dass etwas geschehen
ist, das dich beleidigt hat, dann verzeihe uns. Alles, was
wir getan haben, war nur dir zu Ehren.“
Die ganze Zeremonie ist nicht für die
Hinterbliebenen gedacht, sondern sie macht dem Toten klar,
dass das Leben auf Erden zu Ende ist., dass er oder sie
jetzt frei ist ins Licht oder zu Gott zu gehen.
(Aber.....das werfen von Erde.....)
Dann spricht man den Trauernden tröstende
Worte zu, wofür es eine feste Formel gibt. Die Worte des
Beileids werden erst nach der Beerdigung gesprochen,
entsprechend dem Grundsatz: „Tröste den Trauernden nicht,
solange sein Toter vor ihm liegt.“ Bevor man den Friedhof
verlässt, wäscht man sich die Hände. Die Vorstellung, dass
die Berührung eines Toten verunreinigt, wird soweit
ausgelegt, dass jeder Besuch eines Friedhofs eine
Händewaschung erforderlich macht. Vielfach ist es üblich,
vorher noch etwas Gras auszureißen und es hinter sich zu
werfen, um damit anzudeuten, dass dereinst die Toten
auferstehen werden wie das Gras auf dem Felde. Es gilt als
verdienstlich, vor dem Verlassen des Friedhofs Almosen zu
geben, weil die Wohltätigkeit vor dem Tode errettet. Zu
diesem Zweck sind am Friedhofsausgang meist Sammelbüchsen
aufgestellt.
Im Gegensatz zu dem, was auf christlichen
Friedhof üblich ist, dürfen jüdische Gräber niemals
eingeebnet werden, um für eine erneute Belegung Platz zu
schaffen. Sie haben Bestand für alle Zeiten. Dadurch sind
jüdische Friedhöfe eine wichtige historische Quelle, sie
sind quasi „steinerne Urkunden, die auch darum von
einzigartigem historischen Wert [sind], weil bei den Juden
so etwas wie Kirchenregister nicht existieren. Wenn in
Israel ein jüdisches Grab aus der Antike entdeckt wird,
werden die Überreste sofort in einen jüdischen Friedhof
umgebettet. Im Judentum ist die Ruhe des Körpers heilig und
auf ewig bzw. bis zur Auferstehung.
Mit der Beerdigung endet der erste
Trauerzustand, während dessen die Hinterbliebenen von allen
religiösen Pflichten entbunden sind, und es beginnt die
Trauerzeit, die in mehrere Abschnitte zerfällt: Zunächst die
Trauerwoche (Schiw'a), dann der Trauermonat (Schloschim) und
schließlich, nur nach dem Tod der Eltern, das Trauerjahr.
Für die Schiw'a besteht die Vorschrift, das Haus nicht zu
verlassen, keine festen Schuhe zu tragen und auf niedrigen
Schemeln zu sitzen. Man soll nicht arbeiten und sich auch
nicht mit dem Studium der Tora beschäftigen, weil das als
eine Freude erachtet wird. Darüber hinaus sollten die
Trauernden Handlungen vermeiden, die dem Körper ein nicht
unbedingt notwendiges Behagen verschaffen. Daher ist es
vielfach üblich, dass männliche Trauernde sich nicht
rasieren.
Der Trauernde soll sich um nichts sorgen
müssen; darum ist es üblich, dass Freunde und Bekannte
gekochtes Essen bringen. Aber es gibt im Judentum keinen
„Leichenschmaus“, weder vor, noch nach der Beerdigung. Man
lädt auch niemanden zu einem Essen ein. Wenn die trauernde
Familie nach Hause kommt, nimmt sie eine einfache Mahlzeit
zu sich, die von den Nachbarn vorbereitetet wird: etwas Brot
und hart gekochte Eier. Man nennt dies „das stärkende Mahl“.
Warum harte Eier? Weil diese im Judentum die Ewigkeit
symbolisieren. Ein Ei hat weder Anfang noch Ende.. Der
Sabbat unterbricht die Schiw'a, denn am Sabbat soll alle
Trauer schweigen. Die Trauernden besuchen die Synagoge; sie
werden beim Freitagabend-Gottesdienst in den Raum geführt –
meist vom Rabbiner oder dem Vorbeter -, wobei ihnen noch
einmal das Beileid der Gemeinde ausgesprochen wird.
Ein gutes Beispiel ist die Geschichte vom
Rabbiner, dessen Sohn nach dem Eingang des Schabats
gestorben war.
Als das Kind starb, befand sich der
Rabbiner zur Begrüßung des Schabats in der Synagoge. Die
Mutter nahm den kleinen Leichnam und versteckte ihn. Da sich
die Geschichte im Winter in Polen ereignete, konnte sie die
Verwesung aufhalten. Sie erzählte ihrem Mann nichts und auf
seine Fragen antwortete sie, dass das Kind bei Verwandten
sei. So feierten sie ungestört den Schabat. Nachdem der
Schabat vorbei war, zeigte die Frau ihrem Mann den Leichnam.
Als er sie fragte, warum sie ihm den Tod des Kindes
verschwiegen hatte, antwortete sie: „Ich wollte nicht deine
Freude am Schabat stören.“ Am Schabat trauert man eben
nicht.
Das ist auch der Grund, warum Jesus noch
am Tag seines Todes, und zwar am Rüsttag für Pessach, vom
Kreuz genommen und sofort bestattet wurde. Das Pessachfest
(das jüdische Ostern) dauert zwei Tage. Das ist der Grund
dafür, dass Maria Magdalena erst nach dem Feiertag zum Grab
kam.
Im Trauerhause pflegt man während der
Schiw'a ein Licht brennen zu lassen oder auch während des
Trauermonats. Diese Einteilung hat einen doppelten Sinn. Aus
Trauerarbeit hat man inzwischen gelernt, dass die erste
Woche gewöhnlich die schwerste ist. Das ist auch der
Zeitraum, in dem man oft den Verlust noch nicht annehmen
kann. Deswegen spricht man auch viel über den Verstorbenen
oder die Verstorbene. Das scheinen schon unsere Vorfahren
gewusst zu haben. Es gibt aber auch einen anderen Grund.
Laut der Überlieferung pendelt die Seele sieben Tage lang
zwischen dem Grab, wo sich der Körper befindet, und dem
Heim. Erst nach sieben Tagen versteht sie wirklich, dass
alles vorbei ist, und verabschiedet sich endgültig.
Wenn die Zeit der strengen Trauerbräuche
beendet ist, beginnt eine Epoche, die als Schloschim
bezeichnet wird, der Trauermonat, in den die Schiw'a
miteingerechnet wird. Während der Schloschim verläuft das
Leben wieder einigermaßen normal, allerdings vermeidet man
Lustbarkeiten. Männliche Trauernde gehen täglich am Morgen
zum Gottesdienst, um Kaddisch zu sagen.
Nach dem Tod der Eltern dauert die
Trauerzeit ein Jahr; Kinder, die ihre Eltern verloren haben,
meiden während dieser Zeit alle Veranstaltungen, die
ausschließlich dem Vergnügen dienen. Kaddisch wird von
Söhnen elf Monate lang täglich im Gemeindegottesdienst
gesagt, im 12. Monat nicht mehr. Wenn keine in religiöser
Hinsicht volljährigen Söhne vorhanden sind, kann ein anderer
Angehöriger diese Pflicht übernehmen.
Der erste Jahrestag der Beerdigung wird im
deutsch-jüdischen Sprachgebrauch als „Jahrzeit“ bezeichnet.
An diesem Tag des Verstorbenen zu gedenken, hat sich wohl
auch zuerst im 15. Jahrhundert bei den deutschen Juden
eingebürgert und von dort aus verbreitet, so dass mit der
Sitte auch der Name heute allgemein üblich geworden ist. Das
Wort „Jahrzeit“ ist sogar als Vokabel in die hebräische
Sprache eingegangen. Am Tage der Jahrzeit wird, wie während
der Trauerwoche und des Trauermonats, im Hause ein Licht
entzündet, das 24 Stunden brennt, und an diesem ersten
Jahrestag pflegt man mit einem Minjan, also mit 10 religiös
mündigen männlichen Personen, das Grab zu besuchen, um dort
Kaddisch zu sagen. Die Jahrzeit wird dann in allen folgenden
Jahren nicht mehr am Beerdigungstag, sondern jeweils am
Todestag (nach jüdischem Datum) begangen.
Hierzulande wird, wenn das Trauerjahr
beendet ist, der Grabstein gesetzt. Als Inschriften findet
man häufig, „po nitman/nitmena“, „hier ist begraben“. Die
auch anzutreffenden Buchstaben stehen für po tamun/temuna
„hier ist geborgen“. Am Schluß der Grabinschrift sieht man
oft die Abkürzung, die ausgeschrieben (Tehi nafscho/ nafscha
zrura bizror ha-chajjim) „Möge seine/ihre Seele eingebunden
sein in das Bündel des Lebens“ lautet. Auf alten Grabsteinen
sieht man oft Abbildungen, wie z.B. Hirsch oder Löwe, die
auf den Namen des Verstorbenen hinweisen. Das Symbol der
segnenden Hände weist auf einen Cohen, einen Angehörigen der
Priesterkaste hin und die Kanne auf einen Nachkommen des
Stammes Levi, dessen Mitglieder den Priestern im Tempel das
Wasser für Waschungen reichten. Wichtig ist es das der Name
enthalten wird. Der schlimmste Fluch im Judentum ist „jimach
schmo“ sein Name soll ausradiert werden. Deswegen sind in
Jad vaschem in Jerusalem die Namen aller 6 Millionen
aufgezeichnet.
Das Niederlegen und Pflanzen von
Blumenschmuck beim Besuch eines Grabes entspricht nicht
jüdischem Brauch, fand jedoch in der Neuzeit in weniger
gesetzestreuen Kreisen Verbreitung. Traditionell legt man
zum Zeichen des Gedenkens an den Verstorbenen einen kleinen
Stein auf den Grabstein. Der Überlieferung zufolge stammt
dieser Brauch noch aus der Zeit der Wüstenwanderung. Es soll
ein Warnzeichen für den Priester gewesen sein, dass sich an
dieser Stelle ein Grab befindet.
Wir kommen jetzt zum nächsten Schritt: Was
passiert mit der Seele nach dem Tod?
Als erstes möchte ich darauf hinweisen,
dass es im Gegensatz zum Christentum im Judentum keine
festen Glaubensbekenntnisse, kein Dogma gibt.
Es gibt vier verschiedene Vorstellungen:
1.Weiterleben in den eigenen Nachkommen, 2. Leibliche
Auferstehung, 3. Weiterleben als unsterbliche Seele im
Himmel, 4. Reinkarnation. Diese schließen sich nicht
gegenseitig aus und viele Juden glauben an eine Kombination
mehrerer.
1. Weiterleben in den eigenen
Nachkommen
Wie ich schon am Anfang dieses Vortrages
betont habe, beschäftigt sich die Torah sehr wenig, wenn
überhaupt, mit dieser Frage. Sie konzentriert sich auf das
Leben in dieser Welt, wobei der Aspekt des Überlebens in den
Nachkommen besonders betont wird. In der Geschichte von
Abraham und Sarah klagt Abraham immer wieder darüber, dass
er keinen Erben hat und Gott muss ihn immer wieder aufs Neue
beruhigen durch das Versprechen, er werde so viele
Nachkommen haben wie Sterne am Himmel stehen.
Im Talmud steht der folgende Satz: „Wenn
einer einen Menschen vernichtet, ist es als ob er eine ganze
Welt vernichtet hätte.
(Und wenn einer einen Menschen rettet, ist
es, als ob er eine ganze Welt erhalten hat.“ Daher war im
alten Judentum die Fortpflanzung so wichtig. Wie wir gesehen
haben, wird bei der Fortpflanzung die ganze Information der
Eltern und derjenigen, die vorher kamen, weitergegeben. Wenn
die Fortpflanzung nicht stattfindet, wird diese ganze
Informationskette unterbrochen.)
Könnte das der Grund dafür sein, dass die
Nazis ganze Familien ausgerottet haben und darauf achteten,
dass keine Nachkommen am Leben blieben? Nicht umsonst
spricht man davon, dass im Holocaust eine ganze Welt
untergegangen ist.
Wie gesagt, wird das Fortbestehen dieser
Kette durch den Kaddisch symbolisiert.
2.
Leibliche Auferstehung
Hier sprechen wir von dem Glauben, dass
der Mensch „am Ende der Tage“, auch „olam ha-ba“ oder „die
kommende Welt“ genannt, in seinem physischen Körper
auferstehen wird. Wann dieser Glaube in die jüdische
Tradition eingegangen ist, ist unklar. Aber schon zu
talmudischen Zeiten wurde dieser Glaube als eine Art Dogma
angesehen: „Wer behauptet, dass die Auferstehung der Toten
keinen Beweis in der Torah hat, hat keinen Anteil in der
kommenden Welt.“
(Laut der Torah folgt dem irdischen Dasein
des Menschen der Abstieg in den „Sheol“. Damit ist das Grab
gemeint und es wird als ein düsterer Ort, ein Ort der
Schatten angesehen.
Die meisten Leser, die einmal in die
Kabbala hereingeschnuppert haben, haben vom Baum des Lebens
gehört, aber die wenigsten wissen, dass es parallel dazu
auch einen Baum des Todes gibt, der dem Bereich des Bösen
angehört. Leben und Tod, Gut und Böse sind Parallelen, die
sich schon in der Torah finden: ultimatives Chaos. Diese
Sicht bezieht sich auf den biblischen Schöpfungsbericht.
Dort handelt es sich an erster Stelle um die Erschaffung der
Ordnung aus dem Chaos. Am Ende jedes Absatzes steht dann:
„Und Gott sah, es war gut.“ In der Bibel ist also Formgebung
gleich gut und dementsprechend ist Chaos gleich böse. Wenn
ein Mensch stirbt, verlässt ihn das Leben und der Körper
befindet sich im Bereich des Chaos, d.h. des Bösen und wird
deswegen als unrein angesehen. Laut dieser Überlieferung
wird der Messias den Tod, mit anderen Worten das Böse,
abschaffen.
(Wenn wir uns jetzt wieder der Bibel
zuwenden, finden wir immer wieder die Aussage, dass der Tote
tot ist, weder isst noch schläft noch den Schöpfer aus dem
Grabe preist. Wo kommt also der Glaube an die Auferstehung
her, der seit talmudischer Zeit im Judentum so weit
verbreitet ist, dass er sogar ins Gebetbuch aufgenommen
wurde. So steht im zentralen täglichen Gebet der folgende
Satz: „Und Du bist zuverlässig, dass Du beleben wirst die
Toten. Gelobt seiest Du Ewiger, der die Toten belebt.“ In
den 13 Grundlehren des RamBam, dem jüdischen
Glaubensbekenntnis, lautet der letzte Absatz: „Ich glaube
mit voller Überzeugung, dass eine Wiederbelebung der Toten
stattfinden werde.“ Dieser Glaube wurde auch zu einem der
zentralen Dogmen der christlichen Religion, die ja nichts
anderes ist als ein Ableger der jüdischen. Am meisten
bezieht man sich auf die Prophezeiung von Jesaja: „Leben
werden deine Toten, meine Leichen auferstehen! (
Wachet, jubelt, Staubbewohner, denn dein
Tau ist ein Tau der Lichter: Aufs Land der Gespenster wird
er niederfallen.)
Auch im Buch Daniel wird von der
leiblichen Auferstehung gesprochen: „Von denen, die im Lande
des Staubes schlafen, werden viele erwachen. Die einen zum
ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zur ewigen Abscheu.“
Einen noch größeren Einfluss hatte
wahrscheinlich die Prophezeiung von Hesekiel über die
Totenfelder Israels: „Über mich kam Seine Hand und in Seinem
Hauch brachte Er mich zu einer Ebene, die war voller
Gebeine. ...)
Und ER sprach zu mir: Menschensohn,
werden diese Gebeine leben? Ich sprach: Mein Herr, Du selber
weißt es. Er aber sagte mir: Kündige diesen Gebeinen und
sprich zu ihnen: Ihr verdorrten Gebeine höret Seine Rede! So
spricht der Herr zu diesen Gebeinen: Sehet, ich werde über
euch meinen Hauch bringen und ihr werdet leben. Ich gebe
über euch Sehnen, ich lasse Fleisch euch überziehen und
überspanne es mit Haut. Dann werde ich euch meinen Odem
geben und ihr werdet leben. Und dann werdet ihr wissen, dass
ich Gott bin.“ Und so war es. )
Viele Juden und Christen haben diese
Prophezeiung wörtlich genommen und dies war wahrscheinlich
die wichtigste Grundlage des Glaubens an die leibliche
Auferstehung. Da die Prophezeiung über das Land Israel
sprach, haben einige Gelehrte aus der Zeit des Talmud
geglaubt, dass die Auferstehung allein im Lande Israel
geschehen könnte. Dass die Erde dort heilig war. Viele
glaubten sogar, dass die Auferstandenen zum Tempelberg
kommen müssten und ließen sich deswegen auf dem Ölberg
gegenüber dem Tempelberg bestatten. Das ist auch der Grund
dafür, dass bis zum heutigen Tag ein Beutel mit Erde aus dem
Heiligen Land unter den Kopf der Leiche gelegt wird. Es
entstand sogar eine Legende, die das Problem der
Auferstehung jener Juden lösen sollte, die außerhalb des
Landes Israel begraben wurden. Diese Toten müssten sich
unterirdische Tunnel graben, die bis an den Tempel führen.
In diesen Tunnels werden sie bis zu dem Ort rollen, wo die
Auferstehung stattfinden wird. In einigen Versionen
existieren diese Geheimtunnels bereits. Für die Auferstehung
muss allerdings eine Bedingung erfüllt werden: ein Teil der
Gebeine muss erhalten sein und es gab viele Diskussionen,
wie groß dieser Teil sein muss. Die Version, die am
weitesten verbreitet ist, sagt, dass ein Wirbel genügen
würde. Das ist auch der Grund dafür, dass die orthodoxen
Juden darauf bestehen, dass jeder jüdische Friedhof intakt
bleibt, und die Feuerbestattung ablehnen. Heute, nach
Auschwitz, ist dieser Glaube schwer beizubehalten, und nicht
zufällig wurde Auschwitz zu einem Symbol der totalen
Ausrottung. Dort wurden auch die Knochen verbrannt und die
Asche verstreut. Deshalb ist es so wichtig, dass zumindest
die Namen irgendwo weiterbestehen.
(Die Prophezeiung von Hesekiel bekommt für
uns heute eine ganz neue Bedeutung. Wenn wir an die
Überlebenden der Konzentrationslager denken, so waren
eigentlich nur noch Haut und Knochen übrig und sie sahen aus
wie die Gebeine in der Prophezeiung. Sie hatten ebenso wenig
Hoffnung wie diese und im Grunde sind sie genau so
auferstanden.)
Es stellt sich nur noch die Frage, was mit
den Seelen geschieht, während der Körper sich auflöst. Die
Antwort von Rabbi Yossi ha-Gelili ist, dass die Seelen in
besonderen Schatzkammern unter dem Thron Gottes aufbewahrt
werden bis zum Jüngsten Tag. Das ist der Hintergrund für das
Gebet, das ich vorhin zitiert habet.
3. Weiterleben als unsterbliche Seele im
Himmel
In der Bibel wird die Person als eine
Ganzheit angesehen und deshalb war die Seele nicht klar vom
Körper abgegrenzt.
Trotzdem ist es für die Bibel fast
selbstverständlich, dass „etwas“, die Seele, die
Persönlichkeit oder das menschliche Bewusstsein auch nach
dem Tode weiterbesteht.
Aber wo? In dieser Frage gehen die
Meinungen auseinander. Wie ich schon erwähnt habe, gibt es
eine Sicht, derentsprechend die Seelen „unter dem Thron“
gesammelt werden, oder wie es in dem Totengebet gesagt wird:
unter den Schwingen der Shekhina“.
Die philosophische Kabbala, ähnlich wie
Maimonides (12.Jahrhundert), behauptet, die geistige Welt
sei ein Bereich, der aus reiner Information besteht. Dort
können Informationen bzw. Seelen miteinander kommunizieren,
ohne mit der Materie verbunden oder von ihr abhängig zu
sein. Maimonides nennt die Seelen Engel und die geistige
Welt Olam Haba (s.o.).
Der Begriff Seele gleicht also dem
Selbstbewusstsein, der Persönlichkeit und laut der heutigen
Sicht der Kabbala besteht sie aus reiner Information.
Und nach dem Tod? Nachdem der Computer
nicht mehr funktioniert? Geht dann nicht alles, was auf der
„Festplatte“ gespeichert wurde, verloren?
(Hier kommen wir wieder zu dem Begriff
„Olam haba“. Im Gegensatz zur Gedankenwelt von Maimonides
befindet sich für modernere jüdische Philosophen und
Mystiker die Seele nicht in einem Zustand von Stasis, „unter
dem Thron“ bis zum Eintreffen des Olam Haba, der Welt, die
nach dem Jüngsten Gericht „kommen wird“. Für sie ist das
Weiterbestehen der Seele nach dem Tod ein dynamischer
Prozess und sie verstehen unter dem Begriff Olam Haba das,
was im Christentum Himmel genannt wird, den Ort, zu dem die
Seelen der Gerechten nach ihrem endgültigen Tod gehen. )
In der jüdischen Tradition spricht man
nicht vom Himmel, sondern vom Gan Eden, ein Begriff, der
irrtümlicherweise mit „Paradies“ übersetzt wurde, aber
dieselben Eigenschaften hat: Ein Ort, an dem die Seelen um
einen langen Sabbattisch versammelt sind, singend und
feiernd im ewigen Licht Gottes. In mystischen Kreisen, wie
z.B. bei den Chassidim, spricht man auch von der Jeschiwa
schel mala, der Akademie des Torastudiums, die sich „Oben“
befindet, und in der man über alle unklaren Sätze und
scheinbaren Widersprüche der Torah aufgeklärt wird.
(Aber um dort aufgenommen zu werden, muss
man vor den himmlischen Gerichtshof treten. Laut der
jüdischen mystischen Auffassung entscheiden dort drei
Richter über das Schicksal der Seele, ob sie schon reif ist
um in die Akademie aufgenommen zu werden oder noch nicht.
Worum handelt es sich bei diesem Verfahren? Welche Taten
zählen?
Eine chassidische Geschichte:
Eines Tages wurde Amos, ein wohlhabender
Kaufmann, auch der Gerechte genannt, vor den König zitiert.
Am nächsten Morgen zog er seine besten Kleider an und
erschien vor dem Thron. Der König sah ihn sehr ernst an und
sprach.“ Morgen musst Du aufbrechen, um in ein anderes
Königreich zu reisen. Bei Sonnenaufgang musst Du dich im
Thronsaal befinden. Dann werde ich dir dein Ziel sagen und
den Weg weisen. Bereite dich gut vor. Wisse aber, dass du
nur das mitnehmen kannst, was man nicht tragen kann.
Amos hatte noch viele Fragen, aber seinem
König stellt man keine Fragen.
Zurück zu Hause fing Amos an sich für die
Reise vorzubereiten, eine Reise, von der er weder Ziel noch
Dauer wusste. Aber was war die Bedeutung des Rätsels, das
ihm der König gestellt hatte? Nur das durfte er mitnehmen,
was er nicht tragen konnte? Dann kam ihm plötzlich die
Antwort: Wahrscheinlich meinte der König, dass seine Arme
und Beine frei sein sollten. Er musste also seine Taschen
füllen, und diese mussten sehr groß sein. Was nimmt man also
mit? An erster Stelle, meinte Amos, würde er Goldmünzen und
Juwelen brauchen. Die sind überall anerkannt. Ausserdem,
sagten ihm seine Ratgeber, brauche er Proviant für die
Reise. Er rief seinen Schneider und sagte ihm: Mache mir
sofort einen neuen Anzug. Aber dieser Anzug muss viele und
besonders tiefe und breite Taschen haben, denn der König
schickt mich morgen auf Reisen, und ich kann nur das
mitnehmen, was ich auf meinem Körper tragen kann.
Noch in derselben Nacht brachte ihm der
Schneider den Anzug. Er entsprach genau seinen Angaben.
Reihen von Taschen befanden sich rund um die Hosen. Und der
Mantel! Das innere Futter machte aus ihm eine riesige
Tasche.
Zufrieden füllte Amos seine Taschen mit
all dem, was er glaubte für die Reise zu benötigen. Gold und
Juwelen, Wertpapiere und viele Weizenkuchen. So begab es
sich zum Hof, wo er plötzlich merkte, dass er eine
lächerliche Figur abgab, mit einem aufgebauschten Mantel und
Hosen, die ihm immer wieder bis zu den Knien
herunterrutschten. Sein würdevolles Aussehen war dahin.
Amos, der Gerechte, hatte sich in Amos, den Clown
verwandelt. So konnte er doch nicht vor den König treten.
Aber, aber, ... für diese Reise würde er doch das alles
brauchen. Wie ein schwer beladener Esel stolperte er in den
Thronsaal hinein.
Aber der Raum war leer, die prächtigen
Kronleuchter waren verschwunden. Es war dunkel wie in einer
mondlosen Nacht.
Wohin war der König verschwunden? Wie
sollte er das neue Königreich erreichen ohne jemanden zu
haben, der ihm den Weg weisen würde. Und was sollte er dort?
Der König hatte ihm schliesslich nichts gesagt. Auf allen
Seiten gab es nur Schatten. Der Weg zurück war abgeschnitten
und er sah keinen Weg, dem er folgen konnte.
Amos sank auf den kahlen und kalten Boden,
der einst mit den feinsten Teppichen belegt war. Ein kalter
Hauch, wie der des Todesengels, ließ ihn erzittern. Er
schaute um sich und sah, dass auch die Decke und die Wände
des Raums verschwunden waren. Er befand sich in einer Leere,
im Nichts, umgeben von unklaren, eher nebelartigen Figuren.
Schluchzend rief er aus: „So helfe mir doch jemand. Der
König ist verschwunden, ich weiss nicht, wo ich bin und
kenne nicht den Weg, den ich gehen soll!“
Plötzlich hörte er Stimmen. Erst die eines
Kindes: Hab keine Angst, Amos Gutherz. Du hast den Arzt, der
mein Bein wieder gerade gemacht hat, bezahlt. Jetzt kann ich
wieder draußen spielen.“
Ein altes Paar sagte: „Du warst wie ein
Sohn für uns, der Sohn, den wir verloren hatten, und hast
uns wieder Freude ins Leben gebracht.“
Eine Frau sagte dann: „Als ich krank war,
ließest du mir Nahrung bringen und hast mir so wieder
Hoffnung gemacht.“
„Eines Winters hast du mir geholfen
meinen Karren aus dem Graben zu ziehen,“ fügte ein Nachbar
hinzu.
„Und ich bin der kleine Bettler, dessen du
dich angenommen hast.“
Mehr und mehr Stimmen ließen sich hören,
und alle erzählten, wie Amos ihnen Hoffnung und Freude ins
Leben gebracht hatte.
Segen aus einem Leben voller guter Taten
salbten den Kopf von Amos mit dem guten Herzen. Er stand
wieder gerade und seine lächerliche Kleidung löste sich in
nichts auf.
„Hier geht der Weg lang“, sagten sie ihm,
„hier geht der Weg, der ins Paradies führt, und das einzige
Proviant, das du für diesen Weg brauchst, sind deine guten
Taten.“
In dieser Geschichte spielte der König die
Rolle des Gerichtshofes.)
Es sind insbesondere die guten Taten, die
das Tor zum Paradies öffnen, gute Taten, die man tut, ohne
dafür eine Belohnung zu erwarten. Oft stellt es sich
heraus, dass die besten Taten diejenigen sind, die der
Mensch gar nicht als solche bewertet hat. Für ihn waren sie
selbstverständlich.
Aber was geschieht mit denjenigen, deren
gute Taten nur „fast“ genügen um den Aufenthalt im Paradies
zu verdienen? Fast aber nicht ganz? Die haben die Wahl,
durch die Gehenna, eine Art von Fegefeuer zu gehen, in dem
sie von ihren Sünden gereinigt werden.
Im Gegensatz zum Christentum gibt es im
Judentum weder ein „ewige Verdammnis“ noch eine Erbsünde,
und das Fegefeuer dauert nicht länger als ein Jahr.
Und was passiert mit denjenigen, die noch
nicht reif sind und nicht den Weg des Fegefeuers gehen
wollen. Für die gibt es nur einen Weg:
Die Reinkarnation
Wie wir schon gesehen haben, ist die
mystische jüdische Überlieferung der Auffassung, dass die
Seele nach dem Tod sehen, hören und sogar lernen kann. Es
ist ihr aber unmöglich irgendetwas in der materiellen Welt
zu verändern, und deshalb kann sie weder gute noch böse
Taten vollbringen. Dafür braucht sie einen materiellen
Körper.
Der vielleicht wichtigste Kabbalist
unserer Zeit, Rav Kook, hat behauptet, dass der Tod ein
Defekt der Schöpfung sei. Die Aufgabe des jüdischen Volkes
sei es, diesen Makel aus der Welt zu schaffen und die Natur
vom Tod zu befreien. Die Sünde im Paradies, welche den
Menschen zu einer verzerrten Weltsicht geführt hat, habe
auch den Tod und die Angst vor dem Tod in die Welt gebracht.
Rav Kook betont auch, dass es sehr schwer sei, die Menschen
von dieser Fehleinschätzung zu befreien. Selbst nach dem Tod
lassen sich die Seelen nur schwer davon überzeugen, wenn
überhaupt.
Bis jetzt gehört die Reinkarnation noch in
den spirituellen oder religiösen Bereich. Da wir uns mit der
jüdischen Einstellung zu diesem Thema beschäftigen, stellt
sich als erstes die Frage nach der Haltung der Bibel zur
Reinkarnation. Wie wir oben schon gesehen haben,
interessiert sich die Torah kaum für das, was nach dem Tod
geschieht. Deshalb finden wir dort auch keine direkten
Aussagen über dieses Thema. Spätere Kommentatoren behaupten
allerdings in der Torah einige Hinweise auf die
Reinkarnation gefunden zu haben.
Die ersten dieser Behauptungen befinden
sich in dem kabbalistischen Buch Bahir, das der
Überlieferung zufolge von Nechunia ben Ha’kana’a, der im 1.
Jahrhundert gelebt hat, geschrieben wurde.
Im Bahir befindet sich das folgende
Zwiegespräch: „Was bedeutet ... von Generation zu
Generation? Rabbi Pinhas sagte: So steht geschrieben:
(Ecclesias 1,4) 'Eine Generation geht, und eine Generation
kommt', und Rabbi Akiva sagte darauf: ...'Eine Generation,
die schon (einmal) gekommen war'.“
Hier setzt der Bahir Generation mit
Inkarnation gleich und sagt damit: Die Generation, die geht,
ist auch die Generation, die kommt. Der Bahir nimmt auch an
anderen Stellen Bezug auf die Reinkarnation, z.B. „Warum
geht es den Sündern gut und den Gerechten schlecht? Weil der
Gerechte in der Vergangenheit ein Bösewicht war und nun
bestraft wird. Aber bestraft man denn für Sünden der
Jugendtage? Rabbi Shimon hat doch gesagt, dass man erst vom
20. Jahr ab bestraft wird. Er antwortete: „Ich spreche ja
nicht von diesem Leben. Ich spreche davon, dass er schon in
der Vergangenheit da war und gesündigt hat.“t.
Es gibt allerdings noch einige Textstellen
in der Torah, die nur durch Reinkarnation zu erklären sind.
Die nur dann zu erklären sind, wenn wir „Generation“ durch
„Inkarnation“ ersetzen. Die Zehn Gebote enthalten einen
Satz, der vielen Exegeten Schwierigkeiten bereitet hat; es
handelt sich um den Ausspruch: „Ich, der Herr, dein Gott,
bin ein eifernder Gott, der die Schuld der Väter zuordnet
den Söhnen, der dritten und der vierten Generation derer,
die mich hassen.“
Müssen wirklich die Nachkommen bis zur
vierten Generation für die Sünden ihrer Vorväter büßen? Sagt
nicht Jeremiah: „In jenen Tagen wird man nicht mehr
sagen:“Die Väter haben saure Trauben gegessen und den
Kindern werden davon die Zähne stumpf,“ sondern ein jeder
wird um seiner eigenen Schuld willen sterben; einem jeden,
der die sauren Trauben isst, sollen die eigenen Zähne stumpf
werden.“
Diese Frage ist momentan in Deutschland
sehr aktuell; denn die heutige Generation, die dritte nach
dem Holocaust, ist nicht mehr bereit die Schuld ihrer
Vorfahren zu übernehmen.
Von der Bibel zur Kabbala. Während die
früheren Schriften wie z.B. der Bahir in Andeutungen
sprechen, die nur von Eingeweihten verstanden werden
konnten, beginnt die Kabbala im 14. Jahrhundert sich
ausführlich mit dem Thema der Reinkarnation zu befassen.
Im Sohar, dem zentralen Buch der Kabbala,
erscheint zum ersten Mal der Ausdruck „Gilgul“, der auch
heute noch für Reinkarnation benutzt wird. Interessant ist,
dass die Bedeutung des Wortes „Gilgul“ (wörtlich: „sich auf
dem Rad drehen“) identisch ist mit „Sansara“, dem „Rad der
Wiedergeburten“, wie wir es aus dem Hinduismus kennen.
Wie oft die Seele wiederkommen muss, ist
unklar. Laut dem Bahir gibt es Seelen, die Tausende von
Reinkarnationen brauchen. Andere hingegen glaubten, dass
eine Seele normalerweise nur drei- bis viermal zurückkehrt.
Er glaubte, dass, wenn sie bis dahin ihr Ziel nicht
erreicht, sie sich ins Nichts auflöst.
Nachdem der Baal Schem Tov im 18.
Jahrhundert die Kabbala popularisiert hatte, ist auch der
Glaube an die Reinkarnation bei den ultraorthodoxen Juden
zum Volksgut geworden. Selbst heute noch enthält die
Lubavitcher Version des Gebetbuches ein Nachtgebet, in dem
der Betende jedem vergibt, der ihm „in dieser oder
irgendeiner anderen Inkarnation Ärger oder Verdruss bereitet
hat.“ Aus persönlichen Gesprächen habe ich entnommen, dass
dieser Glaube auch ihre Sicht von Kindern, die mit
Geburtsfehlern wie Mongolismus geboren werden, beeinflusst.
Für sie handelt es sich um uralte Seelen, die gekommen sind,
um uns bedingungslose Liebe zu lehren. Wenn also jemand als
Behinderter geboren wird, könnte es sein, dass er kam um uns
etwas zu lehren. Wir haben nicht das Recht zu fragen, warum,
oder gar zu richten. Unsere Aufgabe ist es vielmehr ihm
bzw.ihr zu helfen. Da liegt der Unterschied zwischen der
indischen und jüdischen Auffassung.
In dieser Gemeinde habe ich auch eine
weitere Erklärung für Reinkarnation gefunden. Dort glaubt
man, wenn eine Seele eine bestimmte Aufgabe auf dieser Erde
nicht beendet hat, sie so lange wieder kommt, bis sie die
Aufgabe zu Ende gebracht hat. So erklären sie auch den Tod
bei Kindern: Nachdem die Seele ihre Aufgabe schon in der
Kindheit erfüllt hat, gibt es keinen Grund mehr dafür, dass
sie noch in ihrem Körper bleibt. Beim Tod von Babys habe ich
sogar folgende Version gehört: Es ist gekommen, um den
Eltern den Schmerz des Verlustes eines Kindes beizubringen.
Möglicherweise war das sogar eine Art von Bestrafung für
Seelen, die in einem früheren Leben ihre Kinder
vernachlässigt haben. Nach dieser Auffassung lernt man nur
durch Erleben.
Bevor wir dieses Thema verlassen, möchte
ich noch einmal betonen, dass es im Judentum verschiedene
Auffassungen gibt von dem, was uns nach dem Tod erwartet.
Ich wollte zeigen, dass laut dem Judentum die menschliche
Existenz nicht einfach zu Ende geht, wie es so viele moderne
Denker behaupten. Ebenso wollte ich zeigen, dass die
Reinkarnationslehre ein gültiger Bestandteil der jüdischen
Religion ist.
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